Chris und sein Schütze Bob kauern bereits seit längerem regungslos in einer dunklen Ecke des Raumes. Ihr Blick fällt durch das einzige Fenster, dass sie mit einem Vorhang aus halbdurchsichtigem Gewebe verhangen haben. Erste Schweißperlen laufen über ihre Gesichter. Plötzlich geht alles ganz schnell…
„Sechs Klick“, flüstert Chris* seinem Schützen zu. Bob justiert sein Visier. Nachdem er alle Einstellungen vorgenommen hat, atmet Bob tief ein und wieder aus. Chris beobachtet sein Ziel weiter, die Umgebung und die Windverhältnisse. „Spotter fertig“, ertönt es leise von Chris. Kurz darauf die Antwort von Bob: „Fertig!“ Auf das Kommando „Feuer“ von Chris betätigt Bob den Abzug seines Gewehrs und ein Schuss durchbricht die Stille des engen Raumes. Wäre das ein Gefechtseinsatz der Soldaten gewesen, dann hätte das Scharfschützenteam sein Ziel mit höchster Präzision ausgeschaltet. Zum Glück war es nur eine Übung auf dem Truppenübungsplatz Lehnin, rund eine Stunde von Berlin entfernt.
Von den Besten lernen
Hier übt das Objektschutzregiment der Luftwaffe den infanteristischen Kampf im bewaldeten und urbanen Gelände. Letzteres ist der Kampf in und aus Gebäuden heraus. Mit dabei: die Scharfschützen der Luftwaffe unter Führung ihres Zugführers, Stabsfeldwebel Mario E. Er gilt als Koryphäe unter den Scharfschützen der Luftwaffe. E. absolvierte nicht nur sämtliche deutsche Ausbildungen, sondern besuchte darüber hinaus zahlreiche Lehrgänge bei verbündeten Staaten, darunter diverse beim Royal Airforce Regiment in Honington, England. Von seinem Wissen profitieren die Soldaten in der Ausbildung.
Beton statt Gebüsch
In Lehnin üben seine Scharfschützen den Kampf im urbanen Gelände. „Schwerpunkt bei uns ist grundsätzlich das unentdeckte, unerkannte Gewinnen einer Stellung und auch wieder das Ausfließen aus einer Stellung“, erklärt Stabsfeldwebel Mario E. die Übung. Für gewöhnlich verschmelzen seine Scharfschützentrupps dazu mit der Natur. In Ortschaften ist das jedoch schwierig: statt Gebüsch erwartet die Soldaten Beton, Straßenschluchten statt weiten Flächen. „Hier ist jetzt die Herausforderung aus einem recht lichten Wald heraus, sich bis an die Bebauung anzunähern und von dort aus ungesehen ins Gebäude einzudringen.“ Für gewöhnlich würde die Annäherung bei Nacht geschehen. Doch in der Ausbildung üben sie dieses Vorgehen bei Tag, um Fehler schneller aufdecken zu können.
Ein eingespieltes Team
Ein Scharfschützentrupp besteht mindestens aus zwei Mann. Einem Beobachter, englisch Spotter und einem Schützen, dem Sniper. Der Spotter identifiziert die Ziele und weist sie dem Schützen zu. Dazu nutzt er ein leistungsstarkes Fernglas, mit dem er gleichzeitig über einen Laser die Entfernung zum Ziel ermitteln kann. Aus dem Zusammenspiel von Entfernung, Wind und weiteren Umgebungsvariablen berechnet er in Windeseile die korrekte Einstellung für das Zielfernrohr des Schützen. Mit diesen sogenannten „Klicks“ ist es dem Schützen möglich, Ziele auch auf 1.000 Metern Entfernung sicher zu treffen. Durch das Zusammenspiel mit dem Beobachter kann sich der Sniper völlig auf seinen Schuss konzentrieren. Für den Kampf im urbanen Gelände üben die Scharfschützen in bis zu Vier- Mann-Trupps. Zu dem Spotter und dem Sniper kommen dann ein Funker sowie ein stellvertretender Truppführer. Zusammen bilden sie ein eingespieltes Team, das sich blind verstehen muss.
Angeworben von den Kameraden
Solch ein eingespieltes Team bilden Chris, Bob, Feivel* und Jerry*. Die vier sind allesamt Zeitsoldaten in der Laufbahn der Mannschaften und Anfang bis Ende 20. Chris ist 27, Truppführer und zugleich Spotter. Seit fast zehn Jahren dient der Oberstabsgefreite in der Bundeswehr. Während seines ersten Afghanistan-Einsatzes 2010 reifte in ihm der Gedanke, zu den Scharfschützen zu wechseln. Dort traf er beim Sport oft seine Kameraden aus dem Scharfschützenzug, die ihn irgendwann einfach fragten, ob er nicht Lust auf eine neue Herausforderung hätte. „Ich hatte sowieso immer die Überlegung, irgendwann etwas Anderes bei der Bundeswehr zu machen“, erklärt Chris seinen Wechsel. Natürlich reizte ihn der Gedanke, auch auf große Entfernungen mit dem Scharfschützengewehr seine Ziele sicher bekämpfen zu können. „Doch vor allem das selbstständige Arbeiten mit einem Team aus Mannschaftssoldaten ist für mich sehr attraktiv“, beschreibt Chris die Vorzüge seiner Verwendung.
Ruhig und besonnen
„Zwei Wochen nach dem Einsatz ging auch schon die Vorauswahl los.“ Die Vorauswahl findet im Objektschutzregiment statt und umfasst ein 14-tägiges Auswahlverfahren, in dem geprüft wird, ob die Kandidaten charakterlich und körperlich ins Team passen. „Wir brauchen einen ruhigen und besonnenen Soldaten. In Stresssituationen darf er weder hektisch noch apathisch werden“, beschreibt E. den idealen Anwärter. Mit Ruhe und Besonnenheit gelingt es den zuvor ausgewählten Kandidaten, den Scharfschützenlehrgang an der Infanterieschule des Heeres in Hammelburg zu meistern. Dort lernen die angehenden Scharfschützen, wie man sich unbemerkt anschleicht, tarnt und täuscht, sowie Entfernungen genau ermittelt. Natürlich wird dort auch das Schießen mit dem G22, dem Scharfschützengewehr der Bundeswehr, vertieft. „Am Ende ist man nicht länger einer von dreißig, sondern einer von vieren“, erklärt Chris nicht ohne Stolz die Unterschiede zwischen einem Infanteriezug und dem Scharfschützentrupp.
Unentdeckt ans Ziel
Die Ruhe und Besonnenheit zieht sich durch die gesamte Ausbildung. Mit leisem Flüstern verständigen sich Chris und seine Kameraden während der Phase der Annäherung an ein Gebäude. Aus einem lichten Waldstück gilt es zunächst, sich von möglichst vielen Seiten einen Einblick auf das Bauwerk zu verschaffen. Nicht ohne Grund. Denn werden sie entdeckt, ist ihr Auftrag gescheitert. Für den Scharfschützentrupp gilt es bei dieser Übung „das Annähern an das Gebäude, das Eindringen in das Gebäude, das Durchsuchen, sowie das Einrichten einer Stellung zu üben, um in letzter Konsequenz ein Ziel aufzuklären und zu vernichten“, beschreibt Auge* das Vorgehen des Trupps.
Auf den Kopf kommt es an
Auge ist Gruppenführer im Scharfschützenzug und Hauptfeldwebel. Doch der Dienstgrad fällt nicht auf, da innerhalb des Zuges weniger Wert auf den Dienstgrad gelegt wird. Vielmehr komme es darauf an, was ein Mensch im Kopf habe, berichten die Soldaten. Vielleicht ist dieses Denken auch ein Ausdruck der Bescheidenheit auf die E. bei der Auswahl seiner Soldaten so großen Wert legt: „Das ist ein Charaktermerkmal, was wir wirklich suchen“, betont der Zugführer. „Weniger erzählen, was man kann, ist besser als andersherum.“
Feinwerkzeug und Fingerspitzengefühl
Kaum haben die Soldaten es unerkannt bis zum Gebäude geschafft, wartet auch schon die nächste Herausforderung auf sie: die Tür ist verschlossen. Wo andere einen Bolzenschneider und Kraft einsetzen, setzt der Trupp auf Feinwerkzeug und Fingerspitzengefühl. Mittels „Picking“ öffnet Feivel, der stellvertretende Truppführer, die Tür. Zu viel Lärm würde die Scharfschützen enttarnen. Daher setzen sie speziell geformte Werkzeuge in das Schloss ein, um den Schließzylinder lautlos und ohne Beschädigung zu öffnen. „Diese Fähigkeit haben wir erst seit kurzem“, freut sich Chris. „Wir haben uns eigens hierfür ein durchsichtiges Schloss zum Üben besorgt, um ein besseres Verständnis von den Vorgängen im Schließzylinder zu erlangen.“
Keine Überraschungen
Nachdem sich der Trupp Zugang zum Haus verschafft hat, durchsuchen die Soldaten jeden Raum auf Personen, um ungestört ihre Stellung vorbereiten zu können. Damit keine „Zufallsbesucher“ sie überraschen, verschließen sie zuvor die Haustür wieder. Das Durchsuchen der Räume und das Kämpfen auf engstem Raum haben sie in einer speziellen Ausbildung durch ihren Zugführer erlernt. Nachdem sich Chris und sein Trupp davon überzeugt haben, dass das Gebäude leer steht, suchen sie sich in einem der höher gelegenen Etagen einen Raum mit Blick auf ihr Zielobjekt aus. Jerry, der Funker, übernimmt im Erdgeschoss die Sicherung, während Feivel im Obergeschoss aus dem Fenster heraus das Ziel überwacht. Jetzt können Chris und sein Schütze Bob den Raum vorbereiten.
Tarnung ist alles
Doch bevor Chris und Bob ihre Optik und Waffe auf das Ziel ausrichten, gilt es den Raum vorzubereiten. Denn offen stehende Fenster in Gebäuden ziehen Blicke auf sich und ein frühzeitiges Entdecken des Scharfschützentrupps würde den Auftrag scheitern lassen. Für Chris und Bob kommt erschwerend hinzu, dass ein Ausbilder permanent das Haus von außen beobachtet, um etwaige taktische Fehler des Trupps sofort ansprechen zu können.
Doch die beiden verhalten sich richtig, denn bevor sie im Raum ihre Stellung einrichten, verhängen sie das Fenster mit einer Gaze. Dabei handelt es sich um einen dunklen Vorhang aus halbdurchsichtigem Gewebe, der die Durchsicht von außen erschwert. „Wenn ich direkt vorne am Fenster Bewegungen ausführe, dann ist das von außerhalb des Gebäudes relativ leicht aufzuklären“, erklärt Gruppenführer Auge. “Bin ich mehr im Gebäude drin, also in der Tiefe des Raumes, dann ist das von außen deutlich schwerer aufzuklären, weil der Raum hinten deutlich dunkler ist.“ Zur Sicherheit verhängen die beiden die Rückwand hinter dem Schützen zusätzlich mit einer Zeltbahn. „Die Schützen würden sich vor der hellen Betonwand abheben“, beschreibt Auge den Vorgang.
Klicken, Atmen, Feuer
Die Kampfstellung ist eingerichtet, Chris und Bob beobachten aus der Tiefe des Raumes ihr Ziel. Jetzt kann der Auftrag ausgeführt werden. Es kommt nun auf Chris an. Als Spotter erfasst er das Ziel und gibt die Entfernung und die notwendigen Korrekturen für das Zielfernrohr des Scharfschützengewehrs an Bob weiter. Ein leises Klicken an der Optik und die geflüsterte Wiederholung der Einstellungen signalisieren Chris, dass Bob die Einstellungen an der Waffe vorgenommen hat. Die Freigabe zum Schuss wurde über Funk erteilt. „Spotter fertig“, flüstert Chris. Den Finger weiterhin lang am Abzug atmet Bob tief ein und zur Hälfte wieder aus. Langsam gleitet sein Finger an den Abzug. „Fertig“, erwidert er leise. Auf das geflüsterte „Feuer“ durch Chris, wiederholt Bob die Atemübung und krümmt ab. „Ziel vernichtet“, flüstert Chris, der das Ziel die ganze Zeit über beobachtet hat.
Die Scharfschützen haben den Feind gezielt bekämpft und wurden dank ihres umsichtigen Vorgehens nicht erkannt. Die Ausbilder sind zufrieden. Für den Gegner bedeutet der Einsatz von Scharfschützen, dass er jederzeit – auch bei Nacht – bereits auf große Distanz in das Visier von Chris und seinem Trupp geraten kann.
*Namen zum Schutz der Personen geändert
Autor: Thomas Erken/Luftwaffe